Cranach und die Externsteine

Volker Ritters
Lucas Cranach schuf das Externstein-Relief!
Das Parzival-Thema der Gral-Suche

EFODON e.V. Hohenpeißenberg 1997
ISBN 3-932539-08-7
191 Seiten Pb.

Durch den Titel wurde ich neugierig: Wäre es möglich, dass das vielbeschriebene christliche Relief an dem Externsteinfelsen einem bekannten Maler, dem genialen Lucas Cranach, zugeschrieben werden könnte? Da ich mich mehrfach mit den Externsteinen, diesem überragenden Kraftzentrum am Nordrand der deutschen Mittelgebirge, beschäftigt habe, las ich Volker Ritters neues Buch aufmerksam und gespannt. Bald merkte ich, dass ich noch zwei weitere Bücher von ihm lesen müsste, „Verborgene Geometrie“ (1996) und „Das Relief an den Externsteinen“ (1997), denn erst im Verein mit diesen gewinnt der Leser ein umfassendes Verständnis der hier behandelten Zusammenhänge. Zur Hilfe sind im Anhang zum hier besprochenen Buch die Grundlagen der verborgenen Geometrie aufgeführt, außerdem bin ich als SYNESIS-Leser durch Aufsätze von Ritters in die Problematik schon eingeführt. Dennoch fällt es mir immer wieder schwer, den oft verschlungenen Gedanken des Autors zu folgen, denn er hat ein System der Bilddeutung aufgebaut, das weder selbstverständlich noch systematisch erfassbar wäre.

Schon aus diesem Grunde liest man das Buch mit höchster Aufmerksamkeit, muss ständig mitdenken und hat am Ende reichlichen Gewinn.

Ritters beginnt damit, die Ahnentafel der freimaurerischen Einweihung aufzustellen, wobei er unter Betonung der königlichen Kunst (= verborgenen Geometrie) neben der Überlieferungslinie von den Templern und den Dombauhütten zu den heutigen Logen eine zweite Abstammungslinie über die „wissenden Maler“ von Dürer bis Boucher aufzeigt. Dies gelingt ihm durch die Unterscheidung zwischen eingeweihten Kunstmalern und (mehr oder weniger naiv oder nur dekorativ arbeitenden) Maler-Handwerkern. Dieser Ansatz erinnert an das elitäre Modell von Hans Blüher (1888-1955, Berlin), das eigentlich immer gültig ist, aber dennoch vielfach auf Ablehnung stieß. In unserem demokratischen Denken wehrt sich etwas gegen eine derartige Unterscheidung: einerseits die genialen Spitzengestalten der Kultur, andererseits die große tumbe Masse.

Die Ahnentafel scheint mir jedoch bruchstückhaft. Wenn Ritters meint, dass mit den Templern und den Bauhütten die Kenntnis der verborgenen Geometrie erst ins Abendland gekommen sei, irrt er. Es gibt hier romanische Kirchen, die schon im 11., ganz sicher aber 12. Jahrhundert dieselben architektonischen Gesetze enthalten, und diese müssen keineswegs aus dem Orient gekommen sein. Zwar ist der Grundriss der wichtigsten Kirche des christlichen Rheinlands, Sankt Maria im Kapitol in Köln auf den Zentimeter genau in Übereinstimmung mit der konstantinischen Grabkirche in Bethlehem, aber welcher der beiden Kirchenbauten zuerst entstand, wäre noch zu erkunden. (Offiziell ist die Grabkirche fast tausend Jahre älter). Sieht man sich die Grundrisse megalithischer Hügel-„gräber“ an, etwa das von New Grange in Irland, dann erkennt man sofort die Ähnlichkeit und möchte nicht ausschließen, dass die Wurzeln eher in unserem geographischen Bereich gelegen haben. Jedenfalls würde ich den Beginn der Einweihungsarchitektur sehr viel früher und im Norden ansetzen.

Eine entsprechende Korrektur möchte ich bezüglich des von Ritters dargestellten Endes dieser Kenntnisse in Europa vornehmen. Mit den Bauhütten der Gotik erlosch die königliche Kunst keineswegs, um sich nur noch in der Malerei zu manifestieren, sondern sie wurde im Barock mit überragender handwerklicher wie geistiger Fähigkeit überall in Europa in Kirchenbauten, Schlössern und Gartenanlagen ausgeführt.

Schreiten wir zum Kernpunkt des Buches, dem Cranach-Bild „Das Urteil des Paris“, voran. Es ist um 1530 gemalt und hängt heute in Karlsruhe. Was wir eigentlich sehen, erklärt Ritters mit aufwendiger Detailuntersuchung, ist nicht so recht ein Parisurteil nach antiker Vorstellung, wenngleich Elemente davon genommen sein dürften, sondern vielmehr das Sinnbild der Gralsuche des fahrenden Ritters, Parzival, und seines Erweckers Trevrizent. Je länger Volker Ritters diesen Gedanken erklärt, desto einleuchtender wird er. Kein antikes mittelmeerisches Heidentum spricht aus diesem Bild, sondern hochmittelalterliches Christentum.

Das kann man auch ohne Anwendung der verborgenen Geometrie entdecken. Die Hauptperson ist kein Hirte in Arkadien, sondern ein Ritter in Rüstung auf der Reise, und die holden Grazien strahlen nicht in antiker (unschuldiger) Nacktheit, sondern wirken aufreizend in ihrer spärlichen Bekleidung, wie es das ausgehende Mittelalter und die frühe Renaissance liebten. Man erkennt auch sogleich, welche der drei jungen Damen die Auserwählte ist: die ganz rechte Figur, denn sie trägt wie der Ritter einen Hut, der eher als christliches Relikt einen Heiligenschein andeutet, sie steht fest auf dem Boden, ihre Scham wird durch die Hand ihrer Nachbarin gedeckt, und - wichtiger als die anderen Merkmale - : sie schaut dem Ritter in die Augen, während die anderen beiden sich von ihm abwenden.

Der Ritter dagegen, nun also Parzival und nicht Paris, schaut zur fernen Burg am äußersten Bildrand, er ist auf der Suche nach dem Gral. Wegen der so ähnlich klingenden Eigennamen Paris und Parzival möchte ich anmerken, dass beide wohl von der selben Wortwurzel kommen, von pars (daher auch Persien), d.h. Reiter, einst Titel einer neuen kriegerischen Elite zum Beginn der Metallzeit.

Volker Ritters führt uns auf seinen geometrischen Wegen zu immer tieferen Einsichten in das Bild und damit in den Werdegang der Reifung des Geistes ein, öffnet verborgene Räume, die klare Aussagen über geistige Zusammenhänge ermöglichen, immer wieder bildhaft sinnvoll gemacht durch seine Raster und Punktverbindungen. Dabei drängt sich mir stets der Gedanke auf, dass Ritters zuerst einmal Eingeweihter sein muss und dann seine Diagonalen und Dreiecke, Halbkreise und Schwerpunkte in Anwendung bringt, um den Leser an dieser Einweihung teilhaben zu lassen. Es geht ihm um die Versinnlichung der tieferen Erkenntnisse, die er an diesem Beispiel des Cranach-Bildes vorführt.

Andere Elemente des kleinen Kunstwerks geben weitere Einblicke. Da ist der Baum, dessen gegabelte und verschlungene Äste eher an die heidnische Irminsul oder die Weltesche Yggdrasil (Edda) denken lassen, weshalb ich annehmen möchte, dass Cranach auch bewusst unchristliche Motive einfließen ließ und die Gralsmystik nur einen Teil der Bildaussage bestimmt. In diesem Sinne ist auch der erratische Felsblock zu sehen, der laut Ritters den vollkommenen Menschen darstellt. Mit beiden Bildelementen werden wir direkt zu den Externsteinen geführt, die sich in ihrer ebenfalls erratischen Blockform und mit der Irminsul auf dem Relief sofort in Erinnerung rufen.

Aber das römisch-hellenische Heidentum ist nicht völlig verdrängt: In der linken oberen Bildecke, fast hätte ich ihn übersehen,  fliegt der knabenhafte Amor mit Pfeilbogen heran. Und auf wen zielt er? Auf die Auserwählte, die behütete und keusch bedeckte mit dem verinnerlichten Blick. Aus allen diesen auch dem Laien bei längerer Betrachtung erkennbaren Kompositionszusammenhängen hat Ritters im Sinne seiner Anwendung der königlichen Kunst ein Flechtwerk vielsagender Beziehungen entwickelt, die in der Art der Illuministen eine geistige Schau vermitteln, erzieherisch und heilsam zugleich.

An einigen Stellen wird durch das Raster, das Ritters über das Bild stülpt, noch etwas anderes deutlich (z.B. Abb. 16, 17, 31, 44-46, 53-55): Möglicherweise war das Bild früher breiter, denn wichtige Punkte liegen außerhalb des rechten Bildrands. Leider geht der Autor darauf nicht ein. Die allgemeine Anwendbarkeit der Verborgenen Geometrie wird durch diese Fragestellung problematisch.

Dies empfand ich ganz besonders bei Erstellung des Reiseweges der 12 Stufen der Wandlung, die mir willkürlich und unbegründbar erscheint. Wenn daraus gar die Signatur des Meisters erkennbar werden soll, dann setzt mein Verständnis aus. Gerade dieser Punkt ist aber wichtig, um die Schlussfolgerung Ritters nachzuvollziehen, dass der Entwurf zum Externsteinrelief von Cranach selbst stammen soll (ab S. 153). Es ist wohl unfair, ein derart einsichtiges Buch an der im Titel verkündeten These zu bemessen, zumal sie ja eine mutige Erkenntnis beinhaltet, die durchaus auch auf anderem Wege - also ohne verborgene Geometrie - bewiesen werden könnte.

Betrachten wir also Ritters Behauptung und Gedankengänge ohne die Signatur-Beweisführung, die mir nicht haltbar vorkommt.

„Cranach kann also 1508/09 die Externsteine auf der uralten ost-westlichen Hauptstraße passiert haben und von deren Anlagen (auch von einem möglicherweise vorhanden gewesenen, beschädigten älteren Relief) Kenntnis erhalten haben.“ (S.152). Der untere Teil des berühmten Reliefs ist offensichtlich viel älter als der obere größere Abschnitt. Die Formen sind im unteren Teil dermaßen verwaschen und beschädigt, dass kaum mehr als die Komposition erkennbar geblieben ist; und diese weist mit dem leidlich erkennbaren Drachen in heidnisches Gedankengut. Darüber haben wir eine christliche Kreuzabnahme, bei der höchstens die geknickte Irminsul den Betrachter verwirrt, denn als Sinnbild des vorchristlichen deutschen Glaubens passt sie ganz und gar nicht zur Kreuzigung. Darum könnten zwei Zeitpunkte für eine Datierung des oberen Reliefs in Betracht kommen: Kurz nach der Christianisierung dieses Gebietes, also wohl nicht vor dem 11. Jh., wären heidnische Sinnbilder wie an vielen romanischen Kirchen gerade noch möglich gewesen;  und beim Wiederaufleben heidnischer Vorstellungen gegen Ende der Renaissance, im frühen Barock (17. Jh.), wäre eine derartige Anspielung ebenfalls möglich gewesen.

Beide Datierungen lässt Ritters nicht gelten, und mit guten Gründen. Die Weihinschrift von 1115, die als Hauptargument für die erste der beiden Datierungen vorgebracht wurde, dürfte eine Fälschung sein (S. 146). Dem können wir uns heute - nach Aufdeckung der gefälschten Jahreszahlen (siehe mein neues Buch „Die Große Aktion“, Tübingen 1998) - anschließen. Die älteste Wiedergabe des Reliefs, sagt Ritters (S. 147), stammt von 1663 (Stich von L. v. Lennep), eine frühere Erwähnung gibt es offensichtlich nicht. Ritters siedelt die Herstellung des christlichen Reliefs nun zwischen 1511 und 1663 an und richtet seinen Verdacht auf Cranach, wobei ihm die verborgene Geometrie beste Dienste leistet. Da ich diesen Argumenten nicht folgen kann, erwarte ich weitere „Dokumente“ und möchte eher eine Entstehung um die Mitte des 17. Jahrhunderts annehmen. Würde man das auffällige und künstlerisch bemerkenswerte Relief nicht schon bald nach seiner Herstellung beschrieben und abgezeichnet haben?

Vielleicht hilft uns auch eine Untersuchung der im Relief verwendeten Stilelemente und des dahinterstehenden geistigen Horizonts. Ich möchte dies - über Ritters Buch hinausführend - nur kurz andeuten: Einige Verrenkungen der Figuren und vor allem das nicht geradlinige Kreuz legen den Gedanken nahe, dass sich an dieser Felswand schon ein Relief befunden hatte, bevor das christliche unter teilweiser Verwendung des älteren darüber gezwungen wurde. Die Darstellungsweise ist bewusst archaisierend, was die Kleidung betrifft, sogar gotisierend, aber offensichtlich nicht gotisch. Fahne, Sonne und Mond sowie die Kreuzform selbst sollen Byzantinismus spiegeln, aber man merkt eben doch, dass dies eine gutgemeinte Absicht ist, unecht im Gesamtkonzept. Gemeinsamkeiten mit Cranach kann ich nicht feststellen, barock im Sinne einer Erneuerung christlicher Glaubensinhalte kommt mir wahrscheinlich vor, also rund hundert Jahre jünger.

Da stellt sich nun abschließend die Frage nach dem Wert der Verborgenen Geometrie, nicht als Einweihungsführer - da hat Ritters den unbestreitbaren Nutzen mit seinen Büchern ein für alle Mal gezeigt - sondern als kunstwissenschaftliches Beweisinstrument, also bei strittigen Fragen der Urheberschaft oder Datierung, für die Ritters sie ja ebenfalls einsetzt. Können wir diese Raster und Verbindungslinien nicht auch in Bildern erkennen, die keineswegs mit dieser Absicht oder Kenntnis gemalt wurden, also in naiven oder „kunstlosen“ Werken?

Ich will einen Versuch wagen. Ich nehme ein modernes Ölbild, das über jeden Zweifel erhaben ohne verborgene Geometrie gemalt wurde, und verbinde die hervorstechenden Bild-Schwerpunkte miteinander: Siehe da, es geht! Nach einigem Suchen finde ich regelmäßige Dreiecke, das Andreaskreuz und bedeutsame Diagonalen, auch Halbmonde und andere Gebilde. Je mehr Punkte ich einbeziehe, desto regelmäßiger werden die Muster. So kann es nicht richtig sein, sagt mir meine Vernunft. Und ein déja-vu-Erlebnis taucht ebenfalls dabei auf: Als ich vor vielen Jahren die Kraftorte der Iberischen Halbinsel auf einer Landkarte miteinander verband, entdeckte ich sofort sinnvolle Zusammenhänge. Viele Heiligtümer lagen auf einer gemeinsamen Fluchtlinie. Das entstehende Gitternetz ließ mich sogar Heiligtümer finden, von denen ich vorher nichts wusste. Achtstrahlige und sogar sechzehnstrahlige Hauptkraftorte saßen wie Spinnen im Netz und brachten das ganze zum Vibrieren. Ich war begeistert und glaubte, der Erfinder einer neuen Formel zu sein. Bis ich die entscheidenden Fehler erkannte. Zum ersten hatte ich eine moderne Autokarte verwendet, die keineswegs eine winkelgetreue Abbildung Iberiens darstellt. Und bei der Verifizierung im Gelände sah ich den nächsten Fehler: Die Orte lagen nur höchst selten in Blickkontakt, meist schoben sich Gebirgszüge dazwischen, und die Entfernungen waren ohnehin zu groß, um eine visuelle Verbindung zu ermöglichen. Was ich auf diese Weise fand, waren die Türmeketten, die zur Nachrichtenvermittlung in der Frühgeschichte errichtet worden waren. In meinem ersten Buch „Das Erbe der Giganten“ (1977) berichtete ich ausführlich darüber, aber die Idee von dem Gitternetz heiliger Orte, die mich zuerst wie ein Blitz durchdrungen hatte, musste ich wieder streichen. Sie hatte sich nur in meinem Kopf gebildet und mich dadurch auf etwas anderes hingewiesen, eben die Türmeketten, die damit nichts zu tun hatten.

Unser Verstand baut sich schnell Modelle der Wirklichkeit, vielleicht kann er das Chaos gar nicht erfassen ohne diese Strickleitern und Fangnetze. Und diese übergestülpten Netze sind höchst individuell geknüpft, für jeden Betrachter anders, nicht übertragbar. Damit entfällt ihre Verwendbarkeit als Beweismittel.

Natürlich wissen wir von Dürer und seinen Zeitgenossen, dass sie mit einer strengen Raumaufteilung ihre Bilder begannen. Man sollte also nicht von verborgener sondern von geplanter Geometrie sprechen, so wie ein Architekt zuerst einen harmonischen Grundriss anfertigt. Dieser ist allen Bauleuten zugänglich, ja unverzichtbar. Die Gesetze, die dabei Anwendung finden, sind nachprüfbar und wiederholbar. Sie führen auch zu tieferen Einsichten. Und man kann ohne Zweifel auch individuelle Züge herauslösen, an denen der Meister persönlich erkennbar wird. Beweise sind damit dennoch nicht möglich. Selbst wenn der Schöpfer des Externsteinreliefs seinem Werk dieselbe Geometrie zugrunde legte, die Cranach in einem Ölgemälde anwandte, ist das kein Beweis für gleiche Urheberschaft, sondern nur für geistige Nähe und Stilzusammenhang. Sowohl zeitlich als auch geographisch-kulturell wird eine enge Beziehung zwischen den beiden Ausführenden, dem Maler und dem Bildhauer, bestanden haben.

Mit dieser Einschränkung, dass die im Titel so mutig verkündete These weiterer Klärung bedarf, möchte ich diese Arbeit Ritters' weiterempfehlen.

(Uwe Topper)


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